Keine andere Parole der vielen, die in den letzten Wochen auf Transparenten, Postern oder Pappschildern zu lesen waren, spiegelt das Gefühl einer großen Gruppe in der Gesellschaft besser wieder.
Es hat eine Zäsur stattgefunden. Nach den Ereignissen in Ayotzinapa, Guerrero wird immer mehr Menschen bewußt, zu welcher Barbarei dieses Konglomerat aus Macht, Verbrechen und Gewalt fähig ist. In Mexiko werden Menschen verschleppt, getötet und verbrannt. Unter den wachsamen Augen einer Regierung, die auf Zeit und Vergessen spielt, die nichts lieber tun würde, als zur Tagesordnung überzugehen.
Der Ausruf von tausenden von Demonstranten im ganzen Land ist eine Kampfansage an das herrschende System, Demokratie wollen sie es nicht nennen. Viele haben keine Angst mehr! Sie fordern Aufklärung, Gerechtigkeit!
Am Denkmal der Unabhängigkeit, dem „Angel“, forderte die Professorin und Publizistin Denise Dresser als ernstzunehmendes Zeichen der Regierung für einen Kurswechsel die sofortige Festnahme des ehemaligen Goueverneurs des Bundesstaates Mexiko, Arturo Montiel. Gegen ihn liegen mehrere Haftbefehle vor, sagte sie in einer improvisierten Ansprache.
In Guerrero erklären immer mehr Landkreise die Lokalverwaltungen wegen Inkompetenz für abgesetzt und berufen Ratsversammlungen ein. So geschehen im Badeort Acapulco, wo seit Monaten die lokale Polizei streikt, und schon längst Bundespolizei und Militär das Ruder übernommen haben.
In Michoacan erleben wir das Erstarken dubioser Warlords die gegen Selbstverteidigungsgruppen und vom Staat verdingter Kriminellen kämpfen. Der von Peña Nieto eingesetzte Gesandte hat, wie es einer der Mitglieder der Selbstschutzgruppe um Hipólito Mora beschrieb, „eine Riesenschweinerei hinterlassen“. In offiziellen Statements brüstet sich der kommisarische Sicherheitchef für Michoacan von Peñas Gnaden damit, Michoacan sei befriedet. Genau das Gegenteil geschieht. In Michoacan, in Guerrero, in ganz Mexiko.
Erinnerungen an das Märchen vom Kaiser ohner Kleider kommen auf. Das Regime hat abgewirtschaftet, moralisch, politisch und auch wirtschaftlich. Wurden früher Stimmen mit Zement und Wellblech gesichert, gibt es heute umsonst digitale Fernseher. Die Zukunft ist da. Das Fernsehen hat die Rolle des Volksempfängers weiterentwickelt. Televisa ist die Macht, Peña ihr Produkt und die PRI die Leihmutter.
Der Ausverkauf der letzten Bodenschätze hat begonnen. Als das Militär im November 2013 den Hafen Lazaro Cardenas von der Mafia zurückeroberte, lag dort Eisenerz im Wert von rund 15 Mio. US $, etwa eine Monatsproduktion, bereit zur Verschiffung. Käufer fanden sich immer, Chinesen die wenig Fragen stellten. Diese Menge stammte zumeist aus eigenen Minenoperationen.
Was aus den verschleppten Studenten geworden ist, rutschte in der Prioritätenliste des Präsidenten auf die untersten Plätze. Ein geplatzter Grossdeal mit China, der Skandal um die Immobilie seiner Frau, di Entwertung des Pesos, alles Situationen welche die volle Aufmerksamkeit des Präsidenten und seiner Riege erfordern. In alter Dinosauriermanier versucht er Skandal mit Skandal zu überdecken, verbreitet Zweckoptimismus für seine verlorene Sache und ist überhaupt wie alle anderen Volksvertreter erstmal in gutbezahlte Ferien gegangen. Am Dreikönigstag wird er zum Rapport bei Obama erwartet.
Nur ein Baron Münchhausen konnte sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen. Der Präsident und sein Kabinett werden dies Kunststückchen nicht schaffen. Zeitenwende. Auch wenn sie nur in den Köpfen stattfindet und noch nach Ausdrucksmöglichkeiten sucht.
Der junge Mann, der in Oslo mit einer mexikanischen Flagge die Preisverleihung unterbrach, hatte eine couragierte Form des Protests gefunden. Die Abertausenden von Demonstranten, Intelektuelle und Menschenrechtsaktivisten setzen den Präsidenten unter Druck: Wo sind die 43?
Große Teile der Bevölkerung sind nicht bereit, bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Tagesordnung überzugehen. Fatal ist, daß die Regierungsspitze dies anders sieht. Ein Dialog, sofern er jemals stattgefunden hat, ist nun unterbrochen. Die Fronten zeichnen sich klarer ab. Die Eltern der Verschleppten oder ermordeten Lehramtsstudenten haben erklärt, den Protest auf eine neue Ebene zu führen. Die Regierung stellt sie in die Ecke der Unruhestifter und Unbelehrbaren, übersieht dabei, das eine weltweite Solidaritätskampagne deutlich die Stimmungslage wiedergibt.
Irgendetwas ist faul in einem Land, in dem Kapogrößen entweder regelrechten Killerkomandos der Marine zum Opfer fallen, oder wie andere lächelnd in Handschellen vorgeführt werden, nachdem sie sich ergeben haben. Studenten dagegen werden in filmreifen Aktionen von Zivilen entführt, um dann in der Zentrale für Schwerstkriminalität zur Aussage gebeten zu werden. Es fällt nicht leicht diesen Vergleich anzustellen, doch es kann von Gestapo-Methoden gesprochen werden. Es finden Hinrichtungen statt, die eilends zu „Zusammenstößen mit Kriminellen“ geschminkt werden, wie in Tlatlaya geschehen. Als begonnen wurde in der Umgebung von Iguala nach Gräbern der verschleppten Studenten zu suchen fand man so viele Massengräber Unbekannter, daß Guerrero unbestreitbar als „killing field“ bezeichnet werden kann.
Angst. Sie lähmt. Läßt uns zrückweichen. Diese Angst ist weg. Die Gesellschaft wacht aus einem langen Schlaf auf, manche sagen es werde nur fortgesetzt, was 1986 unter den Kugeln auf dem Tlateloco Platz zusammenbrach. Andere führen den Aufstand des EZLN vor genau 21 Jahren an. Viele sehen zu ersten Mal eine reale Möglichkeit das Land mit seinen traditionell korrupten Strukturen zu reformieren. Das sie dabei an ganz andere Reformen denken wie die von der Regierung beworbenen ist nicht schwer vorzustellen.